Bereits zum neunten Mal ist Berlin Schauplatz der Biennale für zeitgenössische Kunst: Der Titel „The Present in Drag“ wurde vom New Yorker Kollektiv DIS konsequent in Programm umgesetzt.
Hyperreale Gegenwelt oder hypervirtuelle Realität? Das Spiel um Verhüllung und Transparenz, Kunst und Kommerz, Realität und Virtualität zieht sich durch alle fünf Ausstellungsorte.
Heute, 16 Uhr nehmen wir (meine Tochter und ich) an einem moderierten Rundgang durch die Ausstellung im ESTM, European School of Management and Technology teil. Die private Management-Schule befindet sich im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR, mitten im Zentrum Berlins am Schlossplatz 1. Das Gebäude wurde in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erbaut und repräsentierte die höchste Einrichtung der DDR-Regierung. Das Interieur ist nachhaltig von der sozialistischen Ära geprägt. Vom Balkon dieses Portals rief Karl Liebknecht 1918 die „freie sozialistische Republik“ aus.
Eingangsbereich der ESTM, European School of Management and Technology mit seinem sozialistischen Interior |
Der Ausstellungsort könnte nicht besser gewählt sein um die Widersprüchlichkeit des Titels der Biennale auszudrücken. „The present in drag“ was ungefähr als „Die verkleidete Gegenwart“ übersetzt werden kann. Alle Beiträge in diesem Ausstellungsort spielen mit einer Art Werbeästhetik.
Im Foyer, wie auch im Eingangsbereich der Ausstellung im ersten Stock sehen wir die Installation „Expansion Curves“ der Künstlerin Katja Novistkova. Ihre Installation besteht aus drei Arbeiten, die jeweils eine Kombination aus Bildmaterial (Trophäenhörner als eine Art Skulptur) und computergenerierten Bilder (Feuerflammen auf Plexiglasaufsteller) sind. Katja Novitskova, geboren 1984 in Tallin, Estland und zu Hause in Amsterdam ist eine „Digital Native“ und produziert Ihre Werke aus den Ressourcen der digitalen Welt.
die Installation „Expansion Curves“ der Künstlerin Katja Novistkova |
Die Hörner sind zugleich Trophäen und materielle Informationsgrafiken zu Zeit und Ressourcen: Pegelstände für Wachstum, Verfall und Entropie. Die uralten Formen werden auf ein Medium gedrückt, das in der zeitgenössischen Werbung Verwendung findet. Die Flammen suggerieren eine Kultstätte und eine ritualhafte Atmosphäre, in der die zugrundeliegenden Kulte auf einem durchgängigen Zeitstrahl koexistieren.
„Blockchain Visionaries“ von Simon Denny |
Im ersten Stock wartet im ersten beiden Ausstellungsräumen Simon Dennys großartige Arbeit über virtuelle Währungen. Simon Denny,1982 in Auckland, NZ geboren, lebt und arbeitet in Berlin. Selbstdarstellung und Selbst-Branding von Staaten und Firmen interessieren Simon Denny schon länger. Blockchain Visionaries bezieht sich auf drei echte Firmen: Ethereum, 21 Inc und Digital Asset Holdings, die an der Spitze der Entwicklung dezentralisierter Währungsplattformen und der Blockchain stehen, einer dezentralisierten Datenbanktechnologie für Transaktionen, die die Grundlage der staatenunabhängigen Kryptowährung BitCoin bildet.
Simon Denny, Berlin 2016 erschienen auf http://bb9.berlinbiennale.de
Denny hat ein an Handelsmessen erinnerndes Informationsdisplay sowie eine eigene Briefmarke für jede der drei Firmen, die jeweils eine zukünftige Richtung der Blockchain-Technologie verkörpern, entworfen. Mithilfe der Briefmarke, bei dem ein Bild buchstäblich zur Währung wird, hebt Denny die Branding- und Monetarisierungsstrategien der drei Firmen hervor, die wiederum als Verkörperung supranationaler Wirtschaftskonzepte verstanden werden können.
Digital Asset Holdings Installation von Simon Denny |
Ethereum Installation von Simon Denny mit der Metallätzwand im Hintergrund |
Denny hat die Briefmarken gemeinsam mit Linda Kantchev, einer Grafik- und Briefmarkendesignerin aus Berlin, kreiert. Das illustrative Potenzial der Briefmarke wird genutzt, um das jeweilige Bestreben der Firmen und die implizite systembezogene Auswirkung auf die Zukunft zu transportieren. Dennys Installation gewinnt dadurch an Brisanz, dass sie im Sitzungssaal des ehemaligen Staatsrats der DDR gezeigt wird. Genau das war ihm auch wichtig. Der im Originalzustand erhaltene Saal wird von einer Metallätzwand im Stil des sozialistischen Realismus dominiert, die Schornsteine eines vergangenen Industriezeitalters zeigt – zusammen mit einer Friedenstaube ist sie ein Monument für die Hoffnung, die Technologie bringen kann.
Im letzten Raum der Ausstellung erwartet uns das Kollektiv GCC. Das Kollektiv GCC – Gulf Cooperative Council (Kooperationsrat der Arabischen Staatendes Golfes) versammelt eine facettenreiche Gruppe von Künstlern, deren Arbeit die politische und kulturelle Perspektive einer neuen Generation auf die gesellschaftlichen Konventionen in den arabischen Ländern des Golfes zum Ausdruck bringt und so ein mehrdimensionales Narrativ erschafft.
Gulf Cooperative Council. Von links: Fatima Al Quadiri, Abdullah Al-Mutairi, Amal Khalaf, Aziz Al Quatami, Barrak Alzaid, Khalid Al Gharaballi, Monira Al Quadiri, Nanu Al-Hamad und Sophia Al-Maria |
Das Werk „Positiv Pathways (+)“ thematisiert die Tendenz der kapitalistischen Ideologien der arabischen Golfstaaten, die im Kontrast zur reichhaltigen immateriellen Tiefe der eigenen Kultur steht. Im Hintergrund hören wir den übersetzten Text zur Ansprache des Scheichs von Dubai an sein Volk in Zukunft positiver zu denken. Hierzu wurde sogar Anfang des Jahres in Dubai ein Glücksminister benannt.
„Positiv Pathways (+)“ der Künstlergruppe GCC |
Die Installation ist eine Laufstrecke, die an die weitverbreiteten, ausgewiesenen Laufstrecken in den Golfstädten erinnert. Im Inneren der Bahn befindet sich eine Figur einer Frau in einer Variante aktueller, in der Golfregion beliebter Kleidung. Sie übt eine Quantum-Touch-Geste in Richtung eines Kindes aus – eine Pseudowissenschaft und eine Geste der Selbstoptimierung inmitten eines gespenstischen Wettkampfes.
einer Frau übt eine Quantum-Touch-Geste in Richtung eines Kindes aus |
ESMT European School of Management and Technology
Schlossplatz 1, 10178 Berlin.
bb9.berlinbiennale.de
Nächster moderierter Rundgang am Samstag, 25.6., 16-17 Uhr. 4€ zzgl. Eintritt.
Die 9. Berlin Biennale findet noch bis zum 18. September 2016 statt.
© 2016 Ruth-Janessa Funk