Mutig und herb: So charakterisierte Kurt Tucholsky 1929 die Figuren von Jeanne Mammen (1890-1976). Die Zeichnerin und Malerin ist eine der sperrigsten und schillerndsten Figuren der jüngeren deutschen Kunstgeschichte. Als Berliner Künstlerin durchlebte sie Krieg, Zerstörung, Armut und den Wiederaufstieg aus Ruinen auf sehr eigene und produktive Weise.
Mit einer der bisher umfangreichsten Mammen-Retrospektiven widmet sich die Berlinische Galerie nun der Wiederentdeckung ihrer ikonischen Arbeiten aus den 1920er-Jahren, ihrer „entarteten“ Experimente und magisch-poetischen Abstraktionen.
Kindheit und Jugend in Paris
Geboren wird Gertrud Johanna Louise Mammen, genannt Jeanne, am 21. November 1890 in Berlin. 1901 übersiedelt die Familie nach Paris. Jeanne und ihre Schwester Maria Louise, genannt Mimi, besuchen dort das Lycée Molière. Das Mädchengymnasium ermöglicht ihnen eine umfassende, musische wie naturwissenschaftliche Bildung. 1907 beginnen die beiden Schwestern eine Kunstausbildung an der renommierten Pariser Académie Julian. 1908 absolvieren beide dann ein Studium an der Académie Royale des Beaux-Arts in Brüssel. Bei Kriegsausbruch 1914, flüchtet die Familie, die in Frankreich als feindliche Ausländer gelten, zunächst in die Niederlande. Das väterliche Vermögen wurde beschlagnahmt und 1915 geht es zurück nach Berlin. Ihre Geburtsstadt ist ihr zunächst noch sehr fremd.
Zurück in Berlin in den zwanziger Jahren
Hier beginnt die künstlerische Reise der beiden Schwestern erneut. Beiden gelingt es erste Illustrationen im Kunstgewerbeblatt unterzubringen. Jeanne und Mimi beziehen am Kurfürstendamm 29 im Hinterhof ein Wohnatelier. Für Jeanne beginnt die produktive Zeit als Zeichnerin und Illustratorin für Modezeitschriften, Lifestyle-Magazine sowie Satire- und Witzblätter. Nützlich für ihre ersten Arbeiten sind ihre früheren Skizzenbücher, gefüllt mit Eindrücken aus Paris und Brüssel. Ende der 1920er-Jahre kann Mammen von ihrer Kunst bereits gut leben. Für farbige Zeichnungen zahlte ihr damals zum Beispiel die Redaktion des Simplicissimus 300 Reichsmark. Das durchschnittliche Monatseinkommen lag vergleichsweise zu der Zeit für einen alleinstehenden Angestellten bei 146 Mark.
„Der Simplicissimus“ war die einflussreichste Satirezeitschrift im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Jede Woche nahm das Blatt die aktuelle Politik sowie gesellschaftliche Entwicklungen kritisch unter die Lupe. Von Jeanne Mammen erschienen fortan regelmäßig Aquarelle und Zeichnungen in dem Magazin.
Diven, Vamps und kesse Gören tummeln sich in jenen Großstadtszenen, mit denen die Künstlerin in Magazinen und Satireblättern Furore macht. Jeanne Mammen ist eine scharfsichtige Beobachterin des Berliner Großstadtleben. Mit ihrem Zeichenstift erkundete sie das mondäne Stadtleben rund um den Kurfürstendamm , die Orte schwul-lesbischer Subkultur rund um den Nollendorfplatz oder die Arbeiterkneipen in Wedding. Im Atelier entstanden daraus eben jene Aquarelle, die sie in satirischen Zeitschriften veröffentlichte und für die sie heute noch berühmt ist.
Sie selbst wollte jedoch lieber „ungesehen durch die Welt gehen“. Künstlerische Selbstbespiegelung lag ihr nicht. Ein rares Selbstporträt findet sich jedoch in einem Skizzenbuch von 1926, als Jeanne Mammen und ihre Schwester Ferien an der belgischen Nordseeküste machten.
Kerzengerade steht sie da, die Arme hängen herab, die Hände ruhen ineinander – eine schmale, sehr introvertiert wirkende Erscheinung. Das schlichte, hochgeschlossene schwarze Kleid schluckt alle Körperlichkeit. Schwarz sind auch das kurz geschnittenes Haar und die Augen, die roten Lippen der einzige Farbtupfer. Der Ausdruck des rundlichen Gesichts ist ernst und gefasst. Das Porträt hat den Charakter einer nüchternen Selbstprüfung. Die Beobachterin beobachtet ausnahmsweise einmal selbst.
In den 1920er-Jahren boomte Berlin. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen junge Leute in Scharen in die Hauptstadt der jungen Republik, um Arbeit, Wohlstand und ein selbstbestimmtes Leben, womöglich auch jenseits traditioneller Geschlechterrollen zu finden. Frauen sind für Mammen das zentrale Thema.
Mammen, als selbstständige Künstlerin ein Prototyp der emanzipierten „Neuen Frau“
Sie zeigt sie selbstbewusst in der Öffentlichkeit mit Bubikopf und Zigarette, ganz Typus der „Neuen Frau“. Doch sie sieht auch die Einsamkeit der modernen Großstädterin. Voller Sympathie zeigt sie die Anstrengungen der jungen Angestellten, sich den modischen Leitbildern anzupassen. Zugleich feiert sie die glamouröse Selbstinszenierung des Vamps. Immer wieder gilt der Blick der Künstlerin den Frauen, die sich ohne Männer amüsieren.
Künstlerischer Widerstand 1933-1945
Der Strich wird härter. »Die soziale Realität« der Krise zu Beginn der 1930er-Jahre bleibt von ihr nicht unbemerkt. Das Jahr 1933 markiert für Jeanne Mammen eine ihre Existenz bedrohende Zäsur »Ende meiner »realistischen« Periode, Übergang zu einer den Gegenstand aufbrechenden aggressiven Malweise -als Kontrast zum offiziellen Kunstbetrieb.« Nun entstehen Arbeiten, die zwölf Jahr e bestenfalls die engsten Freunde zu Gesicht bekommen können. In Auseinandersetzung mit Picassos 1937 entstandenem Wandgemälde Guernica praktiziert Jeanne Mammen eine eigenwillige und in der deutschen Kunst einzigartige »art engage«.
Die Museumsfreunde, der Freundeskreis der Berlinischen Galerie ermöglichte für die Retrospektive den Transport von zwei bedeutenden Werken von New York nach Berlin: Die „Kaschemme“ (Fasching Berlin N)“ von 1930 und das „Cafe Reimann„, das Jeanne Mammen 1931 in dem „Führer durch das lasterhafte Berlin“ (Curt Moreck) veröffentlichte. Das „Cafe Reimann“ war in den 1920er-Jahren besonders populär und befand sich am Kurfürstendamm 62, nicht weit entfernt von Mammens Atelier. Da es als jüdisches Cafe galt, wurde es am 1 2. September 1931 bei einem von den Nationalsozialisten inszenierten antisemitischen Pogrom gestürmt und zerstört.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten beendete Jeanne Mammen ihre erfolgreiche Tätigkeit als Illustratorin: Das Verbot oder die Gleichschaltung aller Zeitschriften, für die sie gearbeitet hatte, nahmen der Künstlerin ihrer Existenzgrundlage. Mehr denn je wurde das Atelier im vierten Stock des Gartenhauses Kurfürstendamm 29 für die Künstlerin zum lebenswichtigen Rückzugsort. Ihre Isolation verstärkte sich durch die Emigration von nahen Freunden sowie ihrer Schwester Mimi, mit der sie von Jugend an besonders eng verbunden war.Jn den folgenden zwölf Jahren praktizierte Mammen eine – nicht ungefährliche künstlerische Auseinandersetzung mit der verfemten Moderne, Um 1937 tauchen vermehrt Motive von Abschied und Reise in ihrer Kunst auf. Der große Hamburger Hafen faszinierte die Künstlerin, und als ein Ort des Abschieds spielt er in ihrem Filmdrehbuch mit dem Titel Schreib mir Emmy! eine besondere Rolle. (Mammens Drehbuch wurde anlässlich der Retrospektive zum ersten Mal von Studierenden der Hochschule für Künsten Bremen filmisch umgesetzt.)
Keine Fenster, keine Heizung, weder Gas noch elektrisches Licht, keine Lebensmittel. Bilder, Lithos, Zeichnungen, Möbel zum großen Teil verbrannt, abgesoffen, gestohlen.“ Ihr Berliner Atelier am Kurfürstendamm 29 glich zum Ende de Zweiten Weltkrieges 1945 einem Trümmerfeld.
Die Nachkriegszeit 1945-1955
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt sich in Berlin wieder reges Kulturschaffen. Mammen ist jetzt 55 Jahre alt und kann erneut als kritische Zeichnerin arbeiten. Anlässlich der ersten freien Wahlen in Berlin 1946 gestaltet sie das Titelbild für die Zeitschrift Ulenspiegel. Der Nichtwähler wählt auch.
In allen wichtigen Nachkriegsschauen ist die Künstlerin vertreten. In der Galerie Rosen erhält sie im Februar 1947 eine große Einzelausstellung. Im Herbst 1948 veranstalteten Künstler aus dem ehemaligen Kreis der Galerie die Ausstellung zone 5. Mammen zeigt hier erstmals neue Arbeiten.
Nach 1945 gehörte Jeanne Mammen zum Kreis um die Galerie Gerd Rosen und beteiligte sich 1948 an der Ausstellung „Zone 5“ in der Galerie Franz. 1949 entwirft sie Bühnendekorationen für das Künstlerkabarett „Die Badewanne“ und 1950 für das Kabarett „Die Quallenpeitsche“.
Bereits während der letzten Kriegsjahre hatte sie Gips und Ton als Ausdrucksmittel für sich entdeckt, beeinflusst von außer-europäischer Kunst und Plastiken von Henry Moore. Ihre Malerei entwickelt sich zum Materialbild: Schnüre von Care-Paketen werden zu den Umrissen einer Trompete gesteckt und Drähte zu Doppelprofilen gebogen. 1949 arbeitet Mammen an dem anarchistisch existenzialistischen Kabarett Die Badewanne mit entwirft Bühnenprospekte und Papierfigurinen.
Mitte der 1950er-Jahre zieht sich Jeanne Mammen fast vollständig aus dem Kunstbetrieb zurück. Der Ost-West-Konflikt bestimmt die Diskussion um Abstraktion und Realismus, die vor allem in Berlin erbittert geführt wird. Mammen beschreibt scherzhaft ihr eigenes inneres Bilderverbot: Ich habe übrigens die »Antibilderpille« seit ein paar Jahren schon erfunden, indem ich mich täglich dem Lustgefühl des Malens hingebe und die Resultate, nachdem ich sie bestaunt, wieder überkleistere. Was würde der Papst dazu sagen? Aus den Formabstraktionen der 1950er-Jahre, beispielsweise in Pluie am Kurfürstendamm, entwickelt die Künstlerin in den nächsten Jahren Malgründe mit labyrinthischen Strukturen.
Spätwerk 1965-1975
Mammens Spätwerk stellt sich als ein Dialog der Gegensätze dar: In ihren figurativen Glanzpapiercollagen montiert sie farbiges Pralinen- und Bonbonpapier zu einer Malerei von mosaikartiger Struktur. In den abstrakten Chiffrenbildern malt sie einzelne zeichenhaften Formen nebeneinander. Diese Gemälde wirken wie eine Geheimschrift, die entschlüsselt werden wollen. In der letzten Phase ihrer Kunst zieht die Malerin somit die Summe ihrer verschiedenen Formexperimente.
Auch ihre Auseinandersetzung mit der französischen Literatur erreichte in der Spätphase ihres Schaffens eine neue Stufe der Intensität. Als junge Künstlerin hatte sie ihr Lieblingsbuch, Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius, in eine farbenprächtige, symbolistische Bildsprache übertragen. In den 1960er-Jahren tauchen in manchen Gemälden ähnliche Figuren als abstrakt-zeichenhafte Formen wieder auf. Mammens 1967 publizierte Übertragung der Illuminationen von Arthur Rimbaud stellt einen weiteren Höhepunkt im Schaffen der frankophilen Künstlerin dar. 1975 vollendet sie am 6. Oktober ihr letztes Bild. Ein halbes Jahr später, im April 1975 stirb Jeanne Mammen.
Jeanne Mammens Gesamtwerk spiegelt in heftigen Brüchen signifikant die politischen und ästhetischen Erschütterungen des letzten Jahrhunderts. In Fachkreisen wird sie als eine der raren, unverwechselbaren Künstlerinnen der Weimarer Republik und Nachkriegszeit weit über Berlin und Deutschland hinaus geschätzt.
Mehr zu Jeanne Mammen gibt‘s im Podcast. Annelie Lütgens, Kuratorin und Leiterin der Grafischen Sammlung in der Berlinischen Galerie, im Gespräch mit Thomas Köhler, Direktor der Berlinischen Galerie, über die Künstlerin Jeanne Mammen und ihre Bedeutung für die Sammlung der Berlinischen Galerie. Hier gehts zur Folge