Unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft sind von Stimmen durchzogen. Unser wichtigstes Kommunikationsmittel, das unsere Kehlen zum Klingen bringt, wird heute weltweit gefeiert. Heute, am 16. April, erinnert der Welttag der Stimme daran, wie zerbrechlich und mächtig zugleich dieses älteste Kommunikationsinstrument der Menschheit ist.
1999 von HNO-Ärzt*innen und Logopäd*innen ins Leben gerufen und von der American Academy of Otolaryngology und dem portugiesischen Phoniater Mário Andrea internationalisiert, erinnert der Aktionstag daran, dass zwei hauchdünne Stimmlippen gleichzeitig Klang, Sinn und Identität prägen. Im Jahr 2025 steht der Welttag unter dem Motto „Empower Your Voice!“ (Ermächtige deine Stimme) – und das klingt für mich wie der Auftakt zu einem größeren Chor: dem Chor der Empörten
Empört Euch! […] Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen – Stéphane Hessel
Warum? Mir ist wieder einmal das schmale Büchlein von Stéphane Hessel (1917-2013) in die Hände gefallen. „Empower Your Voice“ ist ein Imperativ, der perfekt zu Hessels 2010 erschienenem Manifest „Empört Euch!„ passt. Denn wo Hannah Arendt nüchtern feststellt, dass Politik „auf der Tatsache der Pluralität der Menschen beruht“ (Quelle), fügt der Résistance-Veteran Stéphane Hessel das Tremolo hinzu: „Wir sagen den jungen Leuten: Nehmt es auf euch, empört euch!„
Stimme und Widerstand – eine Genealogie des Aufschreis
Stéphane Hessel, 1917 in Berlin geboren, überlebte Buchenwald, kämpfte in der französischen Résistance und war 1948 an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt. Im Alter von 93 Jahren veröffentlichte er das 15-seitige Manifest. Seine Streitschrift „Empört Euch!“ (franz.: Indignez-vous!, 2010) wurde zum meistverkauften Essay in Frankreich seit Sartre und löste eine weltweite Welle von Platzbesetzungen von Madrid (Indignados) bis New York (Occupy Wall Street) aus.
In diesem Artikel will ich nicht über die Pflege der Stimmbänder schreiben, sondern über jenes politische Zwerchfell, das Luft in Stimme und Empörung in Aktion verwandelt.
„Die schlimmste Haltung ist die Gleichgültigkeit“, mahnt Hessel.
Gleichgültigkeit erstickt die Stimme, bevor sie erklingen kann, sie ist die Anti-Phonation des Politischen. Hannah Arendt würde hinzufügen, dass in diesem Verstummen das Ende der Freiheit liegt, denn „wo das Sprechen aufhört, hört die Politik auf“. (Hannah Arendt, Springer Verlag 2020).
Stimme ist mehr als Schall, sie ist verkörperte Beziehung. Schon Aristoteles’ Zoon politikon (ζῷον πολιτικόν) wollte sich mitteilen; Arendt übersetzte diese anthropologische Konstante in die Formel, dass Freiheit erst entsteht, wenn Menschen sich öffentlich an–sprechen. Die Stimme ist ihre kleinste gemeinsame Adresse.
Welttage wie der World Voice Day lokalisieren dieses Drama im Kehlkopf und mahnen: Keine Demokratie ohne gesunde Larynxkultur. Doch Hessels Streitschrift hebt das Thema aus der Medizin in die Ethik: Die Stimme ist nicht nur Medium, sie ist Mandat. Wenn wir nicht sprechen, wird trotzdem geredet – von Algorithmen, Lobbyisten oder populistischen Ventriloquen.
Anatomie der Empörung
Hessel war dabei, als 1944 in Frankreich der Conseil National de la Résistance (Nationale Widerstandsrat – CNR) ein Programm verabschiedete, auf dem die Grundsätze der französischen Demokratie beruhen sollten. Genau diese Prinzipien und Werte sah Hessel bereits 2010 in Gefahr. „Wir alle sind aufgerufen, unsere Gesellschaft so zu bewahren, dass wir auf sie stolz sein können„.
Sein Argument ist heute doppelt historisch: Erstens habe die Résistance schon 1944 eine soziale Wirtschaft gefordert, die den Menschen dient; zweitens sei der Wohlstand seit 1945 „exorbitant“ gestiegen – es fehle nicht an Geld, es werde nur falsch umverteilt. Das Manifest liest sich hier wie ein stimmlicher Stresstest: Welcher Ton bleibt übrig, wenn die Profitgier die Partitur schreibt?
„Noch nie war der Tanz um das goldenen Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.“ – Stéphane Hessel

„Mischt euch ein, empört euch! […] Ich wünsche jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar“, schreibt er in seinem Büchlein. Gleichgültigkeit ist für Hessel Verrat am Menschsein, weil sie die Verbindung zwischen Wahrnehmung und Verantwortung kappt. Empörung dagegen ist Transformationsenergie, ein kurzes, aber explosives Aggregat zwischen Beobachtung und Engagement. Und Engagement ist die Verantwortung eines jeden von uns. Hessel ruft ausdrücklich zu friedlichem und netzwerkorientiertem Engagement auf – lange bevor „Hashtag‑Aktivismus“ Alltag wurde.
Die Dialektik des Aufschreis
Empörung braucht Inhalt (Missstand), Form (Stimme) und Adresse (Öffentlichkeit). Fehlt einer der drei Vektoren, kippt sie entweder in private Wut oder in wütenden Lärm. Hessel insistiert deshalb auf Netzwerken und organisiertem Engagement – nicht als Rezept, sondern als Klangkörper: Die Stimme ist Atem, der Sinn gefunden hat. Hessel lehrt uns, dass dieser Sinn Empörung heißen kann – aber Empörung allein ist nur Ein‑Atmen. Erst das Aus‑Sprechen im Arendtschen Sinne macht Freiheit messbar: Jede hörbare Silbe ist ein Mini‑Referendum darüber, wie viel Pluralität wir zulassen.
Am Welttag der Stimme 2025 geht es deshalb weniger um Stimmhygiene als um Stimmermächtigung. Empower Your Voice heißt: Empörung zum Taktstock machen, der das demokratische Orchester zusammenhält. Ohne diesen Takt verstummen nicht nur unsere Kehlen, sondern die Freiheit selbst: „Nehmt es auf Euch, empört Euch!“ (Stéphane Hessel).